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Nachtfahrt


An einem Tag des ausgehenden Winters unseres Jahres, der sonst ganz unbedeutend war, bestieg der junge Heinrich F. an einer beliebigen U-Bahnstation einen Zug, den er zuerst als neueres Modell, und später, nachdem er sich gesetzt hatte, als Fabrikat mittleren Alters erinnern würde. Bald setzte das Surren der Motoren ein und beschleunigte die Fahrt in das Dunkel, wo der Klang des Metalls, das Metall berührt, alles übertönte. Heinrich F. saß allein in einer Sitzgruppe für vier Fahrgäste neben dem Fenster und blickte in das Hintere seines Zuges, als sich dessen Geschwindigkeit ohne eine Änderung seiner Fortbewegungsweise bis auf den Stillstand beschleunigte und die Zeit sich raffte.
        Heinrich F. beobachtete die anderen Menschen und ihr Älterwerden. Ihm schien es, als nähme niemand eine Notiz davon. Sein Blick wandte sich bald von den Alten ab: Sie vergreisten, starben und vergingen in der Gegenwart jener, die ihnen Sekunden zuvor noch einen Sitzplatz angeboten hatten; er konzentrierte sich auf ein Kind. Das Kleinkind ruft dem Schweigen seiner Umgebung unter Freudesgesten etwas zu. Es trägt grelle Kleidung, vor allem Mütze und Jacke erstrahlen in Gelbgrün. Seine Mutter hatte sie ihm angezogen und lachte jetzt laut zurück, während sie sah, dass es älter wurde und ihr entgegenwuchs. Bald streckte sich der Körper in die Länge, bald hingen die Arme zu weit herab. In einem Moment, als Heinrich F. blinzelte, konnten die übrigen Fahrgäste den Heranwachsenden im Augenblick des Dornausziehers sehen, bevor ihn die Jugend mit der Mutter streiten und Tränen vergießen ließ. Aus Scham vor seiner eigenen Neugier wandte Heinrich F. seinen Blick davon ab und achtete auf seinen eigenen Körper.
        Das Spiegelbild in der Scheibe morphte soeben die letzte Jugend aus seinen Gesichtszügen. Heinrich F.s Brille hatte eine Sehstärke, die zu stark für ihn gewesen war. Fort von dem Bauch, der unter seiner Winterjacke anschwoll, richtete er die Aufmerksamkeit auf das Spiegelbild seiner Augen. Hier verweilte er und sah in das Pupillendunkel, das sich immer schärfer von seiner Iris abgrenzte, als seine Augenfehler die Sehstärke der Brille einholten – überschritten. Unter einer in sich zerfließenden Welt von wuchernder Augenbraue, ausgehendem Haar und allgemeiner Gräulichkeit seines Abbildes verlor Heinrich F. die Lust an der Selbstbeobachtung.
        Still wandte sich das erwachsene Kleinkind zu seiner Mutter. Die Tränen seiner Pubertät trockneten noch, als er seine Angehörige auf immer verstummen hörte. Heinrich F. sah an ihm vorbei und musste ihn in Zeiten des allgemeinen Endes als seinen Nächsten begreifen. Noch als er sich befragte, welche Worte ein Gespräch eröffnen könnten, stellte er fest, dass seine Stimme sich so anfühlte, als sei sie über einsame Dekaden unbrauchbar geworden. Bar sämtlicher Alternativen blickte er zum hinteren Ende des Wagens und erahnte in der Scheibe schwache Lichter seines frühen Lebens. 
Lukas R. Büsse

11 Juli 2016