29 März 2015

Fama Fraternitatis



Oder
Entdeckung der Brüderschaft des hochlöblichen Ordens deß R.C.

In der Schrift Fama Fraternitatis, bei der es nach anfänglichen Manuskriptversionen schließlich um 1615 herum zur Drucklegung kam, ist der Lebensweg des Christian Rosenkreutz als Begründer des Rosenkreutzerordens nachgezeichnet. Der Erzähler befindet sich unter denjenigen, die als dritte Generation von Ordensmitgliedern aus Zufall die sterblichen Überreste und Hinterlassenschaften ihres Gründervaters wiederentdecken. Der war schon im Kindesalter in ein Kloster gegeben worden. Mit 16 Jahren unternahm er eine Pilgerreise in Richtung Jerusalem, die ihn jedoch erst nach Ägypten und in die arabische Welt führte, um dann über verschiedene Länder am Rande des Mittelmeers nach Spanien zu kommen. Nach seiner Heimkunft zurück in Deutschland, als Gelehrter und Erleuchteter, der die Pfade abgeschritten hat, auf der die Alchemie aus dem Orient in den Okzident gelangt ist, stehen monetäre Belange nicht im Fokus und werden bewusst mehrfach – auch in anderen Rosenkreuzerschriften – als unwichtig beschrieben, obwohl er durchaus die Möglichkeit besessen hätte, im Metallumwandlungsprozess Gold herzustellen. Viel eher war sein Geist von einer Idee getrieben, die Wissenschaft auf ein modernisiertes Fundament zu stellen, das eindeutig den Austausch von Wissen und die Lust am Neuen in den Vordergrund rückt und das aushaltende Beharren auf einer von der Zeit überholten Erkenntnis geißelt. Der Leser mag sich an diesem Zeitpunkt fragen, weshalb der Name des Christian Rosenkreutz dann nicht im Zusammenhang mit einer möglichen Generalreformation der Wissenschaft auftaucht. Die Antwort ist schnell gefunden: Ohne seine Zeit mit der Offenbarung neuer Erkenntnisse und Reformvorhaben zu vergeuden, stellte er fest, dass die Zeit dafür noch nicht reif sei, seine Aufgabe jedoch erfüllt war mit der Anhäufung und Bereitstellung von Wissen, dass den Menschen zur Erleuchtung führt und zu ewigem Leben befähigt. Denn Christian Rosenkreutz litt zeitlebens nie an körperlichen Gebrechen und wurde mehr als einhundert Jahre alt. Die Zeit nutzte er vermutlich zur Niederschrift oder Dokumentation seines Wissens und zur Ausbildung von sieben Ordensbrüdern, die in verschiedenen Ländern Europas verstreut ihre Geheimnisse bewahrten, solange bis die Zeit gekommen sei.
Etwa einhundert Jahre nach dem Beginn der Reformation durch Martin Luther steht nun die Allgemeine und General Reformation der gantzen weiten Welt an, wie der Schrifttitel des Drucks vermuten lässt, in dem Fama Fraternitatis und Confessio Fraternitatis angeführt sind. Davon ausgehend, dass Christian Rosenkreutz eine fiktive Figur ist, deren Existenz dem Autorenzirkel um Johan Valentin Andreae zu verdanken ist, lässt sich bereits in diesem Aspekt ein satirischer Anspruch aufdecken. Luthers reformatorischer Weg begann in Mitteldeutschland und stürzte  – überspitzt dargestellt – schließlich ganz Deutschland in einen langanhaltenden Glaubenskrieg, der jedoch erst nach dem Verfassen dieser Schrift ausbrach. Dennoch muss auch von den Zeitgenossen die Reformation der gesamten Welt, also nicht nur der Christenheit, als so größenwahnsinnig wahrgenommen worden sein, dass der Rückschluss auf eine satirische Auslegung der Schrift nahe liegt. Dass Rosenkreutz gleichzeitig in den Verdacht geraten konnte, Häretiker zu sein, lässt sich kaum abstreiten. Als die Kontaktperson für seine Pilgerreise nach Jerusalem verstirbt, während er bereits unterwegs ist, lässt er sich – aus kirchlicher Sicht betrachtet – vom rechten Pfad abbringen und betätigt sich im alchemisch-wissenschaftlichen Bereich. Das allein mag vielleicht noch nicht für großes Aufsehen sorgen, doch als er wieder zurück in die Heimat kommt, scheint er erleuchtet zu sein und den Heiligen Gral für die Gewährung ewigen Lebens gefunden zu haben. Dieses Geheimnis über die Unsterblichkeit hat er nämlich nicht auf dem Weg zu Christus entdeckt, sondern als er auf den Spuren der Alchemie wandelte. Stoff genug für einen Eklat. Einspruch lässt sich einlegen, weil Christian Rosenkreutz schließlich doch gestorben ist. Seine Todesumstände sind allerdings bemerkenswert, weil er im hohen Alter und nach Beendigung seiner Aufgabe auf Erden seine Seele an Gott zurückschickte, von dem er sie einst erhalten habe. Und diese Fähigkeit ist es, die eine besondere Anziehungskraft auf den Leser erzeugen kann: Zuerst stehen natürlich solch philosophische Fragen an, was die Seele ist und wie sie funktioniert und arbeitet. Weil die Instanz jedoch die Frage an sich selbst stellt, muss sie schlicht unbeantwortet bleiben. Der Rosenkreutzerorden scheint aber das Rätsel um die Seele gelüftet zu haben, wenn der Gründerbruder in der Lage gewesen ist, selbst zu entscheiden, welchen Ort die eigene Seele aufsucht, nachdem sie sich selbstständig für die Abstoßung der sterblichen Hülle entschieden hat. Christian Rosenkreutz vollzieht die absolute Selbstbestimmung seines Daseins, was daraus hervorgeht, dass er nicht etwa von Gott gerufen oder gar zu ihm heimgeholt wird. Er trifft diese Entscheidung selbst und braucht auf keine Weisung eines höheren Herrn mehr zu warten.      
In zahlensymbolischer Hinsicht offenbart die Schrift interessante Ähnlichkeiten zur Chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreutz. In der Fama benennt Rosenkreutz sieben Brüder, die sein Wissen weitertragen und sein Andenken wahren. Er selbst ist zu Lebzeiten der Achte in diesem Bunde, also einer mehr als zum Beispiel die Anzahl der Posaunen, die zum jüngsten Gericht blasen und auch einer mehr als die sieben Stockwerke im Turm der Chymischen Hochzeit, die einen alchemischen Prozess zahlenmäßig beschreiben. Rosenkreutz gelangt in dieser belletristischen Schrift in das achte Stockwerk, das im Prozess der Schaffung des neuen Königspaares nicht vorgesehen ist, und offenbart ihm Zusammenhänge, die für die Übrigen ungesehen bleiben müssen. Auch Jesus Christus war in zahlenmythologischer Hinsicht der eine, der neben seinen zwölf Jüngern zu Lebzeiten ‚überzählig‘ gewesen ist. Die Analogie zu den Jüngern Jesu ist hier bei der ersten Generation der Brüderschaft des Rosenkreutzerordens nicht zu übersehen.
Es bleibt abschließend zu fragen, welcher Ambition dieser Text folgt und weshalb er überhaupt verfasst wurde. Andreae selbst betrachtete die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz als eine „Jugendsünde“ und als ein „Spiel“. Seine Mitwirkung an den politischen Traktaten Fama und Confessio hat er zu Lebzeiten nie bestätigt. In welchem Kontext diese Äußerungen gemacht worden sind und wer die Adressaten Andreaes gewesen sein mochten, kann nicht mehr beantwortet werden. Womöglich herrschten bei der Schrift Entstehungsumstände, die den hier beschriebenen ähneln könnten: Im jungen Erwachsenenalter sprießt und erwächst der Zweifel an der Richtigkeit der herrschenden Umstände und es schwindet die Bereitschaft, diese weiterhin zu ertragen. Gleichzeitig geht ein jeder eher vorsichtig mit seiner Zukunft um. Andreae und seine möglichen Mitautoren tragen eine Utopie über das gesellschaftliche Zusammenleben mit sich herum und zumindest Johann Valentin möchte sein Studium der Theologie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Kampfschriften zu verfassen oder zur politischen Agitation zu schreiten sind also keine realistischen Optionen. Was bleibt, ist es, dieser Utopie eine literarische Form zu geben, indem die Vita einer fiktiven Person und deren Erlebnisse zu Papier gebracht werden. Ins Auge sticht auch eine gewisse Konstruiertheit der Erzählsituation bis hin zu dem namentlich im Schatten verbleibenden Erzähler. Im späteren Lebenslauf Andreaes mag es ganz natürlich zu einem Sinneswandel bezüglich seiner Sicht auf darauf gegeben haben, was ein Gesellschaftsideal ausmacht. Diese spekulativen Annahmen könnten zumindest ein Indiz dafür sein, dass er seine Chymische Hochzeit später als „Jugendsünde“ entschuldigte. Ein letzter Gedanke darf an die Adressierung der Fama Fraternitatis gerichtet sein. Die Werke sind im Titel an alle Gelehrte und Oberhäupter in Europa gerichtet. Jedoch war es Überlieferungen zufolge nicht geplant, die Texte jemals zu drucken, was viel weniger für einen seriösen Zweck der Texte spricht, sondern viel mehr für die satirische Autorenbeschäftigung eines Freundeskreises samt Johan Valentin Andreae in dessen Mitte.

Abnahme in Edorf