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Anfliegen

Winter ist überstanden. Technik ist grün. Pilot ist grün. Lasst uns auf Wetter warten.
In der Zwischenzeit: Langweilige Videos.

11 März 2014

03 März 2014

Klassische Rede- und Denkflussstörungen

Stottern um 1800: Die Theorien des Moses Mendelssohn und der seltsame Fall des Heinrich von Kleist

Wie zufällig, geradezu als Randnotiz, lässt Karl Philipp Moritz in seinem 1785 erschienen psychologischen Entwicklungsroman Anton Reiser, der autobiografische Spuren trägt, einen Stotterer erscheinen. Reiser verbringt seine Jugend, weit entfernt von den Eltern, in Hannover. Freitische und Förderer bescheren ihm ein Überleben – aber auch nicht viel mehr. In der Schule ist er verhasst. Eines Tages bemerkt der Erzähler, während Reiser wiederholt aufgrund äußerer Umstände verzagt:

Außer ihm war noch ein gewisser T… ein Gegenstand des Spottes, der zum Teil durch seine stotternde Sprache Veranlassung dazu gab. – Dieser aber schüttelte den Spott ab, wie das Tier mit der unempfindlichen Haut die Schläge.

Weitaus weniger anonym als der Stotterer T... erhält auch der Philosoph Moses Mendelssohn einen Platz im Roman Anton Reiser und wird aufgrund seiner philosophischen Abhandlungen sehr geschätzt. Die Verbindung zwischen Moritz und Mendelssohn war aber nicht nur von distanzierter Bewunderung geprägt, sondern führte auch zu einer Zusammenarbeit. Im ersten Band der Psychologischen Zeitschrift namens Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, die von Moritz herausgegeben wurde, findet sich ein Artikel von Moses Mendelssohn. Unter anderem widmet er sich dem Stottern, indem er einige Hypothesen zu dessen Natur und Ursache aufstellt und schließlich Ratschläge für Betroffene erteilt.
So trennt er in einem ersten Schritt grundsätzlich die Körperwelt von der Seelenwelt ab und hält fest, dass geistige Ursachen sich in körperlichen Wirkungen zeigen. Außerdem seien wirksame Ideen, also jene, die den Anstoß zu einer physischen Handlung bilden, von unwirksamen Ideen zu unterscheiden, die ausschließlich in der Seele verbleiben. Schreibe jemand einen Text, würden sich  die Buchstabenabsichten der Seele in der Reihenfolge ihrer auf das Papier gewünschten Anordnung abwechseln. Gerate jedoch ein Fremdkörper – Mendelssohn nennt sie deplatzierte Kettenglieder – in die saubere Abfolge der Ideen, weil sich in der Seele zwei Kraftmomente gleicher Stärke durchzusetzen versuchen, und die Seele als vermittelndes und bereinigendes Element hinzutreten muss, kommt die Handlung ins Stocken. So erklärte sich Mendelssohn auch das Phänomen Stottern:

Ferner müssen auch nie zwei wirksame Ideen zusammenstoßen, die auf eben dasselbe Organ würken, und Verrichtungen verschiedener Art hervorzubringen bemüht sind. Denn so oft eine solche Collision entsteht, erfolgt eine Art von Schwanken und Ungewissheit in der Seele, ein Zittern in den Organen der Bewegung, das wir in Rücksicht auf die Organe der Sprache mit einem besonderen Namen zu belegen, und Stottern zu nennen pflegen.

Weil der Stotternde nur in bestimmten Situationen mit seiner Redeflussstörung konfrontiert ist, geht Mendelssohn davon aus, dass eine organische Ursache nicht vorliegen kann. So attestiert er dem Stottern eine psychologische Grundlage und schließt eine Mechanische aus. In erster Linie dürfen wir Mendelssohn für diese differenzierte Betrachtung dankbar sein. Eine Trennung in Sprachorgane und Sprachzentrum des Gehirns klingt zu allererst sehr plausibel – und nach dem Ausschlussverfahren bliebe tatsächlich nur die Seele, nur das Sprachzentrum als Übeltäter auszumachen. Heute scheint es gesichert, dass die Sprachverarbeitung eines Stotternden nicht von der eines flüssig sprechenden Menschen abweicht. Und auch die Sprachwerkzeuge – so hat es schon Mendelssohn richtig erkannt – sind in ihrer Funktion nicht eingeschränkt. Sehr wahrscheinlich liegt der Fehler zwischen diesen beiden Instanzen, und zwar in Form einer asynchronen Übermittlung von Befehlen, die das Sprachzentrum verlassen und beim Sprachapparat mal korrekt, mal fehlerhaft ankommen und dort für grobe Disharmonie sorgen. Schlussendlich kann also doch von einer rein körperlichen Fehlfunktion ausgegangen werden.
Keine Diagnose ohne Abhilfe: Moses Mendelssohn unterbreitet den Betroffenen Ratschläge, nach denen Sie ihre Symptomatik behandeln mögen. Wenn Stottern hervorgerufen wird, weil in der Seele eine zweckmäßige und eine unzweckmäßige Idee aufeinandertreffen und mit gleicher Intensität auf die Sprachwerkzeuge wirken, sei dem Stotternden eben nur mit einer verordneten Ideenarmut zu helfen. Dafür ersinnt er die Folgende Therapieumgebung: Der Patient möge laut und langsam lesen, dabei nach Möglichkeit den noch zu lesenden Text komplett verhüllen und Silbe um Silbe dem Auge freigeben – So haben es unzweckmäßige Ideen weitaus schwerer, eine Kraft in der Seele zu entwickeln. Singt ein Stotterer, dann singt er flüssig. Das war schon im ausgehenden 18. Jahrhundert bekannt. Mendelssohn erklärt diesen seltsamen Umstand damit, dass bei einem Liedtext, wie auch bei einem geschriebenen Text, der zu sagende oder zu singende Inhalt bereits feststünde und der Sprecher inhaltlich nicht durch eigene Ideen einzugreifen animiert wird.
Lautes und langsames Lesen sind in der Tat noch heute ein gebräuchliches Mittel zur Therapie von stotternden Menschen. Stotterer sind gezwungenermaßen echte Multitasker: Nicht nur die Konzeption und andauernde Variierung von sprachlichem Inhalt, der möglichst – wenn auch als Vermeidungsstrategie in Misskredit gebracht – nur solche Laute beinhalten soll, die der Stotternde in der aktuellen Situation auch flüssig sprechen zu können glaubt, sind zu bewältigen, sondern auch das Sprechen selbst, was mit hohem kognitivem Aufwand betrieben werden muss, verlangt ununterbrochene Aufmerksamkeit. Wird ein Text gelesen, schaufelt es den Kopf frei, um das Sprechen gezielt zu modifizieren. Mendelssohns Vorschlag, laut und langsam zu lesen, kann nicht genug gelobt werden. Allerdings heute aus ganz anderen Gründen: Lautes Sprechen, das heißt kraftvolles, und langsames Sprechen, das heißt gedehntes, entspricht dem natürlichen Sprachfluss am meisten und schafft ein erhöhtes Maß an Kontrolle, was wiederum das Stottern reduziert.
Ähnlich eindeutig lässt sich das Faszinosum des flüssig singenden Stotterers entzaubern: Noch in den 1950er Jahren bestand eine verbreitete Therapie darin, den Patienten einen Metronom vor die Nase zu setzen und Silbe für Silbe im Takt sprechen zu lassen. Eine Wunderheilung stellte sich in den ersten Sekunden ein. Sobald ein Rhythmus im Spiel ist, hat Stottern keinerlei Möglichkeit mehr, einen Weg in die Sprache zu finden – als Nachteil stellte sich leider bald heraus, dass diese Form der Therapierung nur eine Auffälligkeit durch eine Andere ersetzen kann. Beim Bäcker für drei Brötchen im Takt des imaginären Metronoms zu singen, und hinterher zwar als flüssig sprechend, aber verrückt zu gelten, ist offenkundig schlechter Tausch. Aktuelle Behandlungsmethoden versuchen deshalb, eine möglichst große Akzeptanz dadurch hervorzurufen, dass sie im täglichen Sprachgebrauch ohne Überwindung und weitgehend unauffällig zur Anwendung gebracht werden können.
Auch wenn Mendelssohn mit seiner  Idee der wettstreitenden wirksamen und unwirksamen Ideen – zumindest im Hinblick auf das Stottern – auf dem Holzweg war, kann man ihm zumindest im Groben einen hilfreichen therapeutischen Ansatz attestieren. Lange Zeit stand die Forschung zum Thema Stottern auf sehr wackligen Beinen: Zumeist wurden individuelle Hypothesen aufgestellt, ohne auf andere Arbeiten Bezug zu nehmen. Unser heutiges Wissen darüber ist deshalb noch relativ jung.

Auf der Suche nach berühmten Stotterern, die Zeitgenosse von Karl Philipp Moritz und Moses Mendelssohn waren, drängt sich geradezu Heinrich von Kleist ins Bild. In einer Produktion der Sendung Kulturzeit auf 3sat wurde von Kleist das Bild eines vermutlich stark stotternden Menschen gezeichnet. Der Regisseur und Drehbuchautor Hennig Burk will darin sogar die Ursache für Kleists teilweise schwerverständlichen Ausdruck ausgemacht haben. Während die These, Kleist sei Stotterer, mancherorts als hinlänglich erwiesen scheint, darf bei genauer Betrachtung allerdings gezweifelt werden. Heinrich von Kleist schrieb im Jahr 1801 in einem Brief an seine Schwester Ulrike von Kleist:

Dazu kommt bei mir eine unerklärliche Verlegenheit, die unüberwindlich ist, weil sie wahrscheinlich eine ganz physische Ursache hat. Mit der größten Mühe nur kann ich sie so verstecken, dass sie nicht auffällt – o wie schmerzhaft ist es, in dem Äußern ganz stark und frei zu sein, indessen man im Innern ganz schwach ist, wie ein Kind, ganz gelähmt, als wären uns alle Glieder gebunden, wenn man sich nie zeigen kann, wie man wohl möchte, nie frei handeln kann, und selbst das Große versäumen muss, weil man vorausempfindet, dass man nicht standhalten wird, indem man von jedem äußern Eindrucke abhangt und das albernste Mädchen oder der elendeste Schuft von Elegant uns durch die matteste Persiflage vernichten kann.

Ohne viel Schwierigkeit findet sich darin jeder Stotterer wieder, der nicht gegen die sprachlichen Tücken und Neckerein des Alltagslebens desensibilisiert wurde. Auffällig ist aber, dass er, seiner Schwester gegenüber, das Kind nicht beim Namen nennt, sondern als unerklärliche Verlegenheit betitelt, während Mendelssohn den heute gebräuchlichen Fachausdruck als hinlänglich bekannte Bezeichnung nutzt. Damit jedoch nicht genug: Auch in keinem anderen erhaltenen Brief von oder über Heinrich von Kleist ist das Wort Stottern – oder ein Synonym dafür – in Verbindung mit seinem sprachlichen Ausdruck enthalten. Bei den Äußerungen seiner Weggefährten ergibt sich ein ähnliches Bild. Nicht zu vergessen ist allerdings sein Werk. Ausdrücke wie Stammeln oder Stottern kommen darin vereinzelt vor – Doch hier fällt sogleich ins Auge, dass er diese Wörter nicht in ihrem medizinischen Sinn gebraucht, um eine Redeflussstörung zu beschreiben, sondern um eine Redeweise zu veranschaulichen, die aus Gründen besonderer Erregung ins Stocken gerät. Ein stark stotternder Autor hätte derlei Begriffe weitaus feinfühliger und in ihrer tatsächlichen Bedeutung verwendet.
Es bleibt schließlich seine Schrift Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden als Untersuchungsgegenstand übrig. Hierin rät er jedem, der eine Lösung für ein Problem durch Überlegen sucht, den nächstbesten Mitmenschen aufzusuchen. Dieser brauche weder besonders Gebildet zu sein, noch wird von ihm erwartet, das Problem zu lösen. Viel eher würden sich die richtigen Gedanken einstellen, sobald man diese Problemstellung nahezu monologisch, nur mit kleinen Unterbrechungen durch den Gesprächspartner, erörtere. Kleist beschreibt den Vorgang der Überlegung während des Sprechens als zwei Räder, die an einer Achse befestigt sind und somit denselben Weg nehmen müssen.
„Sprich einfach drüber, dann kommst Du vielleicht drauf.“ – So einfach wie in diesem Allerweltsvorschlag scheint es hier nicht gewesen zu sein. Wenn Kleists Räder an derselben Achse mehr als eine dahingesagt Metapher sind, müssen wir davon ausgehen, dass Denken und Sprechen bei Kleist extrem eng miteinander verwoben gewesen sind und sich gegenseitig bedingten. Kein Gedanke ohne Wort, kein Wort ohne Gedanke – diese These ist natürlich schwer zu halten. Vielleicht nimmt aber in diesem Gegenstand jene unerklärliche Verlegenheit, die unüberwindlich ist, wie Heinrich Ulrike offenbart, Gestalt an. Peter Michalzik schreibt als Kleist-Biograph dazu:
Man kann sich Kleists Sprechen auch als eigentümlich stockende Rede vorstellen, eine Rede unterbrochen von kleinen Absencen, Gedankensprüngen oder Gedanken, die sich zwischen die Worte schieben, einer Denk- und Sprecharbeit also, die hinter dem Gesagten abläuft, und es permanent beeinflusst.
Heinrich von Kleists seltsam unterbrochene Rede, die ihm nachträglich den Ruf eines starken Stotterers einbrachte, ist also vielleicht nichts anderes als die andauernde Operation am offenen Satz mit Werkzeugen des richtungssuchenden Geistes. Und hier kommt abermals Moses Mendelssohns Hypothese der kollidierenden wirksamen Ideen ins Spiel, die in der Tat viel eher ein inhaltliches Stocken beschreiben. Ohne es beabsichtigt zu haben, beschrieb Mendelssohn mit seinem Bild der unsauber aufeinanderfolgenden Kettenglieder tatsächlich die Natur Kleists unerklärlicher Verlegenheit, und nicht den Grund für echtes Stottern, von dem wir Kleist vermutlich freisprechen können. Bereits in einer kurzen Rückschau offenbart sich Stottern im ausgehenden 18. und anbrechenden 19. Jahrhundert als für die Forschung und die Diagnostik uneindeutiges Terrain.