21 Januar 2014

Kriegslyrik interpretiert



Edlef Köppen
Anruf
Ich habe dich geliebt, Gott – aber wo bleibt Halt zu dir?
Machst du uns all die Qualen? Hetzt du uns zum Tier?
Ist es dein Werk, dass unsere Brüder zerrissen auf Bahren bluten?
Wirft deine Hand aus der Geschütze brüllenden Rachen Feuergluten?
Ist es dein Wille, wenn sich deine Söhne zahllos wie vermoderte Bäume fällen?
Lässt Du geschehen, dass Gewehre wild auf unsere Leiber bellen?
Wirfst du die Flammenbrände heiß auf unsere Hütten?
Dass unterm Sturme deines Atems unsere Städte sich verschütten?
Herr! Großes Irresein an dir krallt mich mit tausend Armen!
Ich habe dich geliebt, Gott! Zeige einmal noch Erbarmen!
Herr! Einmal noch sei gnädig! Sieh‘ die Hände, die wir betend heben!
Vergib uns alle unsere Schuld! Und erlöse uns von dem Leben!
Edlef Köppen: Heeresbericht. Nikol Verlagsgesellschaft 2012. Seite 217.

Lukas Büsse
Religionen im Stellungskrieg – woran darf noch geglaubt werden?

Der Weltuntergang ist als herbeigesehntes Schreckensthema ein Dauerbrenner. Während wir uns an abstrakten Maya-Kalendern abmühen müssen, um das Ende der Welt absehbar in die Jetztzeit zu verrücken, sahen sich die Soldaten des ersten Weltkrieges vor einem Jahrhundert einer handfesten Apokalypse gegenübergestellt. Auf kinotaugliches Videomaterial mit Surroundsound als Dokumentation brauchen wir nicht zu hoffen. Augenzeugenberichte aus dem Leben eines Richtkanoniers der Feldartillerie kann uns mittlerweile auch niemand mehr übermitteln. Was neben Feldpost bleibt, sind prosaische und lyrische Auseinandersetzungen mit einer fragwürdigen Realität. Edlef Köppen veröffentlicht seinen pazifistischen Kriegsroman 1930 und lässt den Kriegsfreiwilligen Adolf Reisiger auf ähnlichen Pfaden durch den ersten Weltkrieg taumeln, die auch er selbst beschritten hat. In Reisigers Tagebuchaufzeichnungen stößt der Leser deshalb – datiert auf den 2. April 1916 – auf dieses erste Kriegsgedicht. Ergänzend fügt er hinzu:

„Das Gedicht habe ich vor einigen Tagen geschrieben. Ich male mir immerzu aus, was werden würde, wenn ich es bei der Postausgabe einmal laut vor aller Mannschaft vorläse. Aber dann hält man mich für verrückt und sperrt mich ein. Das lohnt wohl nicht. Nur: Gesagt müsste einmal werden, dass ich den Krieg allmählich für die größte Sauerei halte, die es gibt.“
Köppens Kriegslyrik hat von seiner Eindringlichkeit nichts verloren. Der Sprecher bezweifelt die Sinnhaftigkeit des millionenfachen Mords nicht hinter vorgehaltener Hand oder flüchtet sich gar in leise Anklänge, die eine versteckte Kritik offenbaren würden. Plakativität, Anklage und Ausruf bestimmen seine Ausdrucksform, die sich ohne Brechungen auf den einfachen Paarreim beschränkt und damit eine schwache äußere Struktur vorgibt, während kein einheitliches Metrum durch das Gedicht führt.
„Ich habe dich geliebt, Gott – aber wo bleibt Halt zu dir?“ Bereits der erste Vers offenbart dem Leser die Ratlosigkeit des Sprechers, der versucht, in einer Welt Halt zu finden, in der nicht einmal mehr auf Gott vertraut werden kann. Als Gründe dafür sieht der Sprecher die von Gott auferlegten Qualen an, sowie der evolutionäre Rückschritt, die Degradierung des Menschen zum Tier. Blieb es bis hierher eher abstrakt, folgt nun eine drastische Konkretisierung im dritten Vers: „Ist es dein Werk, dass unsere Brüder zerrissen auf Bahren bluten?“ Köppen dringt hier weiter in die christliche Mythologie ein, zitiert in Ansätzen das Vaterunser und lässt den Brüdermord der Schöpfungsgeschichte millionenfach wieder auferstehen. Von Barmherzigkeit ist bei diesem Gott in Adolf Reisigers Welt nichts zu spüren – im Gegenteil: Wenn Gottes Hand für die Feuergluten verantwortlich zu machen ist, die aus den Rachen der Geschütze geworfen werden; wenn er Flammenbrände auf Hütten wirft und sein Atem Stürme verursacht, unter denen sich ganze Städte verschütten, ist auf einen guten Willen nicht mehr zu hoffen. Der Sprecher lässt seinen Gott als moderne Plage die Zivilisation hinwegfegen und die Menschen sich gegenseitig töten: „Ist es dein Wille, wenn sich deine Söhne zahllos wie vermoderte Bäume fällen?“ In diesem Vers klingt abermals das Vaterunser an und stellt die fromme Christenheit vor eine glaubensmäßige Herausforderung: Wer darum bittet, dass Gottes Wille wie im Himmel, so auf Erden geschehe, muss sich Fragen nach der Sinnhaftigkeit seiner Gebete gefallen lassen.
Nach dem achten Vers kippt die fragende Mentalität des Sprechers, der bislang nach Halt gesucht hat, und geht in einem appellativen Charakter auf. Besonders gut offenbart sich sein neu gewachsenes Gottesbild im neunten Vers: „Herr! Großes Irresein an dir krallt mich mit tausend Armen!“ Der Glaube an Gottes psychische Gesundheit ist in dieser schlammigen Welt des Stellungskrieges voller Verwundung und Tod nicht mehr aufrechtzuerhalten, wo doch das Lebenbleiben an den bloßen Zufall geknüpft ist. Auf der Erde wandelt also die verrückte und richtende Allmacht namens Krieg, deren tausendarmigen krallenbesetzen Fängen früher oder später niemand mehr entkommen wird.
Mit dieser Erkenntnis ist alle Anklage erschöpft und der Mensch fällt in einen Zustand des Verzagens zurück. In Vers zehn und elf scheint sich das Gedicht in ein einfaches Gebet zu verwandeln, in dem Gott dazu ersucht wird, nur noch ein einziges Mal Erbarmen zu zeigen und Gnade walten zu lassen. Aber Köppen lässt seine Antikriegslyrik in solcher Demut nicht ausklingen. Im letzten Vers bringt sein Sprecher zwei Ausrufe unter. Der erste, „Vergib uns alle unsere Schuld!“ lässt sich auf zweierlei Weise begreifen. Glauben wir der Schöpfungsgeschichte, befindet sich die gesamte Menschheit nach dem Biss vom Apfel am Baum der Erkenntnis in einer Art Urschuld. Die Menschen werden dem Paradies verwiesen – wo könnte dieser Zustand einem Wesen deutlicher werden als in einem Schützengraben unter Wirkungsfeuer? Andererseits ließe sich die These aufstellen, dass Gott seine moderne Plage nicht ohne Grund auf die Menschheit losgelassen haben kann: Sie machten sich schuldig. Eventuell haben Gott die Säkularisierungstendenzen der vergangenen Jahrhunderte nur mäßig zugesagt. Theodizee – Die Gottesbestrafung – ist im April 1916 voll im Gange.
Vor diesem Hintergrund ist der letzte Ausruf des Gedichts eine logische Schlussfolgerung. An die Stelle der Erlösung von dem Bösen, wie es im Vaterunser gebetet wird, ist der Wunsch nach Erlösung von dem Leben getreten. Wenn nun Gott nicht mehr von dem Bösen befreit, sondern das Böse selbst verkörpert und er die zerrissen auf Bahren blutenden Brüder zu verantworten hat, wie auch die Feuergluten und den apokalyptischen Sturm, kann das einzige Erbarmen, das Gott dem Menschen noch zuteilwerden lassen kann, nur der Tod sein.

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