31 Dezember 2016
23 Dezember 2016
07 Dezember 2016
26 November 2016
28 Oktober 2016
27 Oktober 2016
11 September 2016
11 August 2016
Nachtfahrt
An einem
Tag des ausgehenden Winters unseres Jahres, der sonst ganz unbedeutend war,
bestieg der junge Heinrich F. an einer beliebigen U-Bahnstation einen Zug, den
er zuerst als neueres Modell, und später, nachdem er sich gesetzt hatte, als Fabrikat
mittleren Alters erinnern würde. Bald setzte das Surren der Motoren ein und
beschleunigte die Fahrt in das Dunkel, wo der Klang des Metalls, das Metall
berührt, alles übertönte. Heinrich F. saß allein in einer Sitzgruppe für vier
Fahrgäste neben dem Fenster und blickte in das Hintere seines Zuges, als sich
dessen Geschwindigkeit ohne eine Änderung seiner Fortbewegungsweise bis auf den
Stillstand beschleunigte und die Zeit sich raffte.
Heinrich F. beobachtete die anderen
Menschen und ihr Älterwerden. Ihm schien es, als nähme niemand eine Notiz
davon. Sein Blick wandte sich bald von den Alten ab: Sie vergreisten, starben
und vergingen in der Gegenwart jener, die ihnen Sekunden zuvor noch einen Sitzplatz
angeboten hatten; er konzentrierte sich auf ein Kind. Das Kleinkind ruft dem
Schweigen seiner Umgebung unter Freudesgesten etwas zu. Es trägt grelle
Kleidung, vor allem Mütze und Jacke erstrahlen in Gelbgrün. Seine Mutter hatte
sie ihm angezogen und lachte jetzt laut zurück, während sie sah, dass es älter
wurde und ihr entgegenwuchs. Bald streckte sich der Körper in die Länge, bald
hingen die Arme zu weit herab. In einem Moment, als Heinrich F. blinzelte,
konnten die übrigen Fahrgäste den Heranwachsenden im Augenblick des Dornausziehers
sehen, bevor ihn die Jugend mit der Mutter streiten und Tränen vergießen ließ.
Aus Scham vor seiner eigenen Neugier wandte Heinrich F. seinen Blick davon ab
und achtete auf seinen eigenen Körper.
Das Spiegelbild in der Scheibe morphte
soeben die letzte Jugend aus seinen Gesichtszügen. Heinrich F.s Brille hatte
eine Sehstärke, die zu stark für ihn gewesen war. Fort von dem Bauch, der unter
seiner Winterjacke anschwoll, richtete er die Aufmerksamkeit auf das Spiegelbild
seiner Augen. Hier verweilte er und sah in das Pupillendunkel, das sich immer
schärfer von seiner Iris abgrenzte, als seine Augenfehler die Sehstärke der
Brille einholten – überschritten. Unter einer in sich zerfließenden Welt von
wuchernder Augenbraue, ausgehendem Haar und allgemeiner Gräulichkeit seines
Abbildes verlor Heinrich F. die Lust an der Selbstbeobachtung.
Still wandte sich das erwachsene
Kleinkind zu seiner Mutter. Die Tränen seiner Pubertät trockneten noch, als er
seine Angehörige auf immer verstummen hörte. Heinrich F. sah an ihm vorbei und
musste ihn in Zeiten des allgemeinen Endes als seinen Nächsten begreifen. Noch
als er sich befragte, welche Worte ein Gespräch eröffnen könnten, stellte er
fest, dass seine Stimme sich so anfühlte, als sei sie über einsame Dekaden
unbrauchbar geworden. Bar sämtlicher Alternativen blickte er zum hinteren Ende
des Wagens und erahnte in der Scheibe schwache Lichter seines frühen Lebens.
Lukas R. Büsse
03 August 2016
11 Juli 2016
20 Juni 2016
18 Juni 2016
Abonnieren
Posts (Atom)