Oder
Entdeckung der
Brüderschaft des hochlöblichen Ordens deß R.C.
In der Schrift
Fama Fraternitatis, bei der es nach anfänglichen Manuskriptversionen schließlich
um 1615 herum zur Drucklegung kam, ist der Lebensweg des Christian Rosenkreutz
als Begründer des Rosenkreutzerordens nachgezeichnet. Der Erzähler befindet
sich unter denjenigen, die als dritte Generation von Ordensmitgliedern aus
Zufall die sterblichen Überreste und Hinterlassenschaften ihres Gründervaters
wiederentdecken. Der war schon im Kindesalter in ein Kloster gegeben worden.
Mit 16 Jahren unternahm er eine Pilgerreise in Richtung Jerusalem, die ihn
jedoch erst nach Ägypten und in die arabische Welt führte, um dann über verschiedene
Länder am Rande des Mittelmeers nach Spanien zu kommen. Nach seiner Heimkunft
zurück in Deutschland, als Gelehrter und Erleuchteter, der die Pfade
abgeschritten hat, auf der die Alchemie aus dem Orient in den Okzident gelangt
ist, stehen monetäre Belange nicht im Fokus und werden bewusst mehrfach – auch
in anderen Rosenkreuzerschriften – als unwichtig beschrieben, obwohl er durchaus
die Möglichkeit besessen hätte, im Metallumwandlungsprozess Gold herzustellen.
Viel eher war sein Geist von einer Idee getrieben, die Wissenschaft auf ein modernisiertes
Fundament zu stellen, das eindeutig den Austausch von Wissen und die Lust am
Neuen in den Vordergrund rückt und das aushaltende Beharren auf einer von der
Zeit überholten Erkenntnis geißelt. Der Leser mag sich an diesem Zeitpunkt
fragen, weshalb der Name des Christian Rosenkreutz dann nicht im Zusammenhang
mit einer möglichen Generalreformation der Wissenschaft auftaucht. Die Antwort
ist schnell gefunden: Ohne seine Zeit mit der Offenbarung neuer Erkenntnisse
und Reformvorhaben zu vergeuden, stellte er fest, dass die Zeit dafür noch
nicht reif sei, seine Aufgabe jedoch erfüllt war mit der Anhäufung und
Bereitstellung von Wissen, dass den Menschen zur Erleuchtung führt und zu ewigem
Leben befähigt. Denn Christian Rosenkreutz litt zeitlebens nie an körperlichen
Gebrechen und wurde mehr als einhundert Jahre alt. Die Zeit nutzte er
vermutlich zur Niederschrift oder Dokumentation seines Wissens und zur Ausbildung
von sieben Ordensbrüdern, die in verschiedenen Ländern Europas verstreut ihre Geheimnisse
bewahrten, solange bis die Zeit gekommen sei.
Etwa
einhundert Jahre nach dem Beginn der Reformation durch Martin Luther steht nun
die Allgemeine und General Reformation
der gantzen weiten Welt an, wie der Schrifttitel des Drucks vermuten lässt,
in dem Fama Fraternitatis und Confessio Fraternitatis angeführt sind.
Davon ausgehend, dass Christian Rosenkreutz eine fiktive Figur ist, deren
Existenz dem Autorenzirkel um Johan Valentin Andreae zu verdanken ist, lässt
sich bereits in diesem Aspekt ein satirischer Anspruch aufdecken. Luthers
reformatorischer Weg begann in Mitteldeutschland und stürzte – überspitzt dargestellt – schließlich ganz
Deutschland in einen langanhaltenden Glaubenskrieg, der jedoch erst nach dem
Verfassen dieser Schrift ausbrach. Dennoch muss auch von den Zeitgenossen die
Reformation der gesamten Welt, also nicht nur der Christenheit, als so
größenwahnsinnig wahrgenommen worden sein, dass der Rückschluss auf eine
satirische Auslegung der Schrift nahe liegt. Dass Rosenkreutz gleichzeitig in
den Verdacht geraten konnte, Häretiker zu sein, lässt sich kaum abstreiten. Als
die Kontaktperson für seine Pilgerreise nach Jerusalem verstirbt, während er
bereits unterwegs ist, lässt er sich – aus kirchlicher Sicht betrachtet – vom
rechten Pfad abbringen und betätigt sich im alchemisch-wissenschaftlichen Bereich.
Das allein mag vielleicht noch nicht für großes Aufsehen sorgen, doch als er
wieder zurück in die Heimat kommt, scheint er erleuchtet zu sein und den
Heiligen Gral für die Gewährung ewigen Lebens gefunden zu haben. Dieses
Geheimnis über die Unsterblichkeit hat er nämlich nicht auf dem Weg zu Christus
entdeckt, sondern als er auf den Spuren der Alchemie wandelte. Stoff genug für
einen Eklat. Einspruch lässt sich einlegen, weil Christian Rosenkreutz
schließlich doch gestorben ist. Seine Todesumstände sind allerdings bemerkenswert,
weil er im hohen Alter und nach Beendigung seiner Aufgabe auf Erden seine Seele
an Gott zurückschickte, von dem er sie einst erhalten habe. Und diese Fähigkeit
ist es, die eine besondere Anziehungskraft auf den Leser erzeugen kann: Zuerst
stehen natürlich solch philosophische Fragen an, was die Seele ist und wie sie
funktioniert und arbeitet. Weil die Instanz jedoch die Frage an sich selbst
stellt, muss sie schlicht unbeantwortet bleiben. Der Rosenkreutzerorden scheint
aber das Rätsel um die Seele gelüftet zu haben, wenn der Gründerbruder in der
Lage gewesen ist, selbst zu entscheiden, welchen Ort die eigene Seele aufsucht,
nachdem sie sich selbstständig für die Abstoßung der sterblichen Hülle
entschieden hat. Christian Rosenkreutz vollzieht die absolute Selbstbestimmung
seines Daseins, was daraus hervorgeht, dass er nicht etwa von Gott gerufen oder
gar zu ihm heimgeholt wird. Er trifft diese Entscheidung selbst und braucht auf
keine Weisung eines höheren Herrn mehr zu warten.
In
zahlensymbolischer Hinsicht offenbart die Schrift interessante Ähnlichkeiten
zur Chymischen Hochzeit des Christian
Rosenkreutz. In der Fama benennt
Rosenkreutz sieben Brüder, die sein Wissen weitertragen und sein Andenken
wahren. Er selbst ist zu Lebzeiten der Achte in diesem Bunde, also einer mehr als
zum Beispiel die Anzahl der Posaunen, die zum jüngsten Gericht blasen und auch
einer mehr als die sieben Stockwerke im Turm der Chymischen Hochzeit, die einen
alchemischen Prozess zahlenmäßig beschreiben. Rosenkreutz gelangt in dieser belletristischen
Schrift in das achte Stockwerk, das im Prozess der Schaffung des neuen
Königspaares nicht vorgesehen ist, und offenbart ihm Zusammenhänge, die für die
Übrigen ungesehen bleiben müssen. Auch Jesus Christus war in zahlenmythologischer
Hinsicht der eine, der neben seinen zwölf Jüngern zu Lebzeiten ‚überzählig‘
gewesen ist. Die Analogie zu den Jüngern Jesu ist hier bei der ersten
Generation der Brüderschaft des Rosenkreutzerordens nicht zu übersehen.
Es
bleibt abschließend zu fragen, welcher Ambition dieser Text folgt und weshalb
er überhaupt verfasst wurde. Andreae selbst betrachtete die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz
als eine „Jugendsünde“ und als ein „Spiel“. Seine Mitwirkung an den politischen
Traktaten Fama und Confessio hat er zu Lebzeiten nie
bestätigt. In welchem Kontext diese Äußerungen gemacht worden sind und wer die
Adressaten Andreaes gewesen sein mochten, kann nicht mehr beantwortet werden.
Womöglich herrschten bei der Schrift Entstehungsumstände, die den hier
beschriebenen ähneln könnten: Im jungen Erwachsenenalter sprießt und erwächst
der Zweifel an der Richtigkeit der herrschenden Umstände und es schwindet die Bereitschaft,
diese weiterhin zu ertragen. Gleichzeitig geht ein jeder eher vorsichtig mit
seiner Zukunft um. Andreae und seine möglichen Mitautoren tragen eine Utopie
über das gesellschaftliche Zusammenleben mit sich herum und zumindest Johann
Valentin möchte sein Studium der Theologie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Kampfschriften zu verfassen oder zur politischen Agitation zu schreiten sind
also keine realistischen Optionen. Was bleibt, ist es, dieser Utopie eine
literarische Form zu geben, indem die Vita einer fiktiven Person und deren Erlebnisse
zu Papier gebracht werden. Ins Auge sticht auch eine gewisse Konstruiertheit
der Erzählsituation bis hin zu dem namentlich im Schatten verbleibenden Erzähler.
Im späteren Lebenslauf Andreaes mag es ganz natürlich zu einem Sinneswandel bezüglich
seiner Sicht auf darauf gegeben haben, was ein Gesellschaftsideal ausmacht.
Diese spekulativen Annahmen könnten zumindest ein Indiz dafür sein, dass er seine
Chymische Hochzeit später als „Jugendsünde“
entschuldigte. Ein letzter Gedanke darf an die Adressierung der Fama Fraternitatis gerichtet sein. Die
Werke sind im Titel an alle Gelehrte und Oberhäupter in Europa gerichtet. Jedoch
war es Überlieferungen zufolge nicht geplant, die Texte jemals zu drucken, was
viel weniger für einen seriösen Zweck der Texte spricht, sondern viel mehr für
die satirische Autorenbeschäftigung eines Freundeskreises samt Johan Valentin
Andreae in dessen Mitte.