Edlef Köppen
Anruf
Ich habe dich
geliebt, Gott – aber wo bleibt Halt zu dir?
Machst du uns all die
Qualen? Hetzt du uns zum Tier?
Ist es dein Werk,
dass unsere Brüder zerrissen auf Bahren bluten?
Wirft deine Hand aus
der Geschütze brüllenden Rachen Feuergluten?
Ist es dein Wille,
wenn sich deine Söhne zahllos wie vermoderte Bäume fällen?
Lässt Du geschehen,
dass Gewehre wild auf unsere Leiber bellen?
Wirfst du die
Flammenbrände heiß auf unsere Hütten?
Dass unterm Sturme
deines Atems unsere Städte sich verschütten?
Herr! Großes Irresein
an dir krallt mich mit tausend Armen!
Ich habe dich
geliebt, Gott! Zeige einmal noch Erbarmen!
Herr! Einmal noch sei
gnädig! Sieh‘ die Hände, die wir betend heben!
Vergib uns alle
unsere Schuld! Und erlöse uns von dem Leben!
Edlef
Köppen: Heeresbericht. Nikol Verlagsgesellschaft 2012. Seite 217.
Lukas Büsse
Religionen im
Stellungskrieg – woran darf noch geglaubt werden?
Der Weltuntergang ist als herbeigesehntes
Schreckensthema ein Dauerbrenner. Während wir uns an abstrakten Maya-Kalendern
abmühen müssen, um das Ende der Welt absehbar in die Jetztzeit zu verrücken,
sahen sich die Soldaten des ersten Weltkrieges vor einem Jahrhundert einer
handfesten Apokalypse gegenübergestellt. Auf kinotaugliches Videomaterial mit
Surroundsound als Dokumentation brauchen wir nicht zu hoffen.
Augenzeugenberichte aus dem Leben eines Richtkanoniers der Feldartillerie kann
uns mittlerweile auch niemand mehr übermitteln. Was neben Feldpost bleibt, sind
prosaische und lyrische Auseinandersetzungen mit einer fragwürdigen Realität. Edlef
Köppen veröffentlicht seinen pazifistischen Kriegsroman 1930 und lässt den
Kriegsfreiwilligen Adolf Reisiger auf ähnlichen Pfaden durch den ersten
Weltkrieg taumeln, die auch er selbst beschritten hat. In Reisigers Tagebuchaufzeichnungen
stößt der Leser deshalb – datiert auf den 2. April 1916 – auf dieses erste
Kriegsgedicht. Ergänzend fügt er hinzu:
„Das
Gedicht habe ich vor einigen Tagen geschrieben. Ich male mir immerzu aus, was werden
würde, wenn ich es bei der Postausgabe einmal laut vor aller Mannschaft
vorläse. Aber dann hält man mich für verrückt und sperrt mich ein. Das lohnt
wohl nicht. Nur: Gesagt müsste einmal werden, dass ich den Krieg allmählich für
die größte Sauerei halte, die es gibt.“
Köppens Kriegslyrik hat von
seiner Eindringlichkeit nichts verloren. Der Sprecher bezweifelt die
Sinnhaftigkeit des millionenfachen Mords nicht hinter vorgehaltener Hand oder
flüchtet sich gar in leise Anklänge, die eine versteckte Kritik offenbaren
würden. Plakativität, Anklage und Ausruf bestimmen seine Ausdrucksform, die
sich ohne Brechungen auf den einfachen Paarreim beschränkt und damit eine schwache
äußere Struktur vorgibt, während kein einheitliches Metrum durch das Gedicht
führt.
„Ich habe
dich geliebt, Gott – aber wo bleibt Halt zu dir?“ Bereits der erste Vers
offenbart dem Leser die Ratlosigkeit des Sprechers, der versucht, in einer Welt
Halt zu finden, in der nicht einmal mehr auf Gott vertraut werden kann. Als
Gründe dafür sieht der Sprecher die von Gott auferlegten Qualen an, sowie der
evolutionäre Rückschritt, die Degradierung des Menschen zum Tier. Blieb es bis
hierher eher abstrakt, folgt nun eine drastische Konkretisierung im dritten
Vers: „Ist es dein Werk, dass unsere Brüder zerrissen auf Bahren bluten?“
Köppen dringt hier weiter in die christliche Mythologie ein, zitiert in
Ansätzen das Vaterunser und lässt den Brüdermord der Schöpfungsgeschichte
millionenfach wieder auferstehen. Von Barmherzigkeit ist bei diesem Gott in
Adolf Reisigers Welt nichts zu spüren – im Gegenteil: Wenn Gottes Hand für die
Feuergluten verantwortlich zu machen ist, die aus den Rachen der Geschütze
geworfen werden; wenn er Flammenbrände auf Hütten wirft und sein Atem Stürme
verursacht, unter denen sich ganze Städte verschütten, ist auf einen guten
Willen nicht mehr zu hoffen. Der Sprecher lässt seinen Gott als moderne Plage
die Zivilisation hinwegfegen und die Menschen sich gegenseitig töten: „Ist es
dein Wille, wenn sich deine Söhne zahllos wie vermoderte Bäume fällen?“ In
diesem Vers klingt abermals das Vaterunser an und stellt die fromme
Christenheit vor eine glaubensmäßige Herausforderung: Wer darum bittet, dass
Gottes Wille wie im Himmel, so auf Erden geschehe, muss sich Fragen nach der
Sinnhaftigkeit seiner Gebete gefallen lassen.
Nach dem
achten Vers kippt die fragende Mentalität des Sprechers, der bislang nach Halt
gesucht hat, und geht in einem appellativen Charakter auf. Besonders gut
offenbart sich sein neu gewachsenes Gottesbild im neunten Vers: „Herr! Großes
Irresein an dir krallt mich mit tausend Armen!“ Der Glaube an Gottes psychische
Gesundheit ist in dieser schlammigen Welt des Stellungskrieges voller
Verwundung und Tod nicht mehr aufrechtzuerhalten, wo doch das Lebenbleiben an
den bloßen Zufall geknüpft ist. Auf der Erde wandelt also die verrückte und
richtende Allmacht namens Krieg, deren tausendarmigen krallenbesetzen Fängen früher
oder später niemand mehr entkommen wird.
Mit
dieser Erkenntnis ist alle Anklage erschöpft und der Mensch fällt in einen
Zustand des Verzagens zurück. In Vers zehn und elf scheint sich das Gedicht in
ein einfaches Gebet zu verwandeln, in dem Gott dazu ersucht wird, nur noch ein
einziges Mal Erbarmen zu zeigen und Gnade walten zu lassen. Aber Köppen lässt
seine Antikriegslyrik in solcher Demut nicht ausklingen. Im letzten Vers bringt
sein Sprecher zwei Ausrufe unter. Der erste, „Vergib uns alle unsere Schuld!“
lässt sich auf zweierlei Weise begreifen. Glauben wir der Schöpfungsgeschichte,
befindet sich die gesamte Menschheit nach dem Biss vom Apfel am Baum der
Erkenntnis in einer Art Urschuld. Die Menschen werden dem Paradies verwiesen –
wo könnte dieser Zustand einem Wesen deutlicher werden als in einem Schützengraben
unter Wirkungsfeuer? Andererseits ließe sich die These aufstellen, dass Gott
seine moderne Plage nicht ohne Grund auf die Menschheit losgelassen haben kann:
Sie machten sich schuldig. Eventuell haben Gott die Säkularisierungstendenzen
der vergangenen Jahrhunderte nur mäßig zugesagt. Theodizee – Die
Gottesbestrafung – ist im April 1916 voll im Gange.
Vor
diesem Hintergrund ist der letzte Ausruf des Gedichts eine logische Schlussfolgerung.
An die Stelle der Erlösung von dem Bösen, wie es im Vaterunser gebetet wird,
ist der Wunsch nach Erlösung von dem Leben getreten. Wenn nun Gott nicht mehr
von dem Bösen befreit, sondern das Böse selbst verkörpert und er die zerrissen
auf Bahren blutenden Brüder zu verantworten hat, wie auch die Feuergluten und
den apokalyptischen Sturm, kann das einzige Erbarmen, das Gott dem Menschen
noch zuteilwerden lassen kann, nur der Tod sein.